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UNiMUT aktuell: Willkommen, Erstis

Vom Fluch der späten Geburt

Willkommen, Erstis (19.04.2006)

Für die meisten der Menschen, die sich in den letzten Wochen neu immatrikuliert haben, ist die unselige Äußerung Helmut Kohls über die Gnade der späten Geburt schon fast prähistorische Geschichte. Das ist auch deshalb traurig, weil sie auf diese Weise vielleicht weniger leicht begreifen, dass sie den Fluch der späten Geburt tragen -- sie studieren hinein in eine von neokonservativer Konterreform geprägte Gesellschaft und eine Universität, die diese reflektiert.

"Konterreform" will heißen, dass die Ergebnisse der Reformen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts Stück für Stück zurückgenommen wurden - und noch werden. Als Leitbild dient hierbei eher die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (wir sagen nur "Elite"). Als Folge steigt der Druck auf den Einzelnen und es ergibt sich eine Vereinzelung der Menschen -- von Menschen, die Konkurrenten sind und sich als solche wahrnehmen, und in der Konsequenz noch weniger in der Lage sind, weiteren Zumutungen Widerstand entgegenzusetzen.

Diese Konterreform hat viele Gesichter. Was sich draußen, außerhalb der Universität, als Hartz IV, Großangriff auf die Bürgerrechte ("Sicherheitspaket"), Privatisierung, Abbau der Flächentarifverträge etc. pp. darstellt, äußert sich in der Universität in Studiengebühren (ab nächstem Jahr erhoben), verschärfter Kontrolle in Bachelor- und Master-Studiengängen, verschärftem Druck in formaler (Studienzeit) und inhaltlicher ("Employability", d.h. Ausrichtung der Studienpläne an den Bedürfnissen der Industrie) Sicht, Zugangstests, dem Durchgriff privater "Sponsoren" auf das Geschehen an der Uni, ausufernder Kontrollbürokratie für die MitarbeiterInnen und vielem anderen, von dem ihr in unseren Archiven lesen könnt.

Die Konterreform ist in dieser Form noch nicht alt -- erstaunlicherweise kennen viele derer, die heute von der "Notwendigkeit" derartiger Veränderungen daherschwadronieren, all dies nicht -- ihr Studium war kostenlos und leidlich frei, ihr Abitur taugte zum Hochschulzugang, und sie durften in ihrem Studium auch mal interessante Sachen machen, ohne schlechtes Gewissen wegen "Zeitverschwendung" haben zu müssen. Es ging also mal anders. Warum bitte jetzt nicht mehr?

Ja, warum? "Weil 'es' notwendig ist," sagen die Konterreformer. Und warum ist 'es' notwendig? "Wegen der Globalisierung," sagen die Konterreformer. Und zack, schon haben sie zwei Mal gelogen. "Globalisierung" muss mitnichten heißen, dass Sweatshoparbeiterinnen in Bangladesch gegen Gewerkschaften in der BRD, dass Studis gegeneinander ausgespielt werden. Nein, dass Globalisierung dies de facto heißt, ist schlicht Politik, die vom Weltmarkt-Mitspieler Nr. 1, der BRD, gemacht und nicht erduldet wird.

Insofern ist es unsere, auch eure, liebe Erstis, Verantwortung, den Kram nicht zu erdulden, sondern zu ändern, auch wenn das zunächst mal nur heißt, die verschiedenen Angriffe abzuwehren. Und um das zu tun, müsst ihr zunächst mal den Glauben aus euren Köpfen werfen, ihr wärt unfähig oder gar SchmarotzerInnen, wenn ihr nicht ein Semester unter Regelstudienzeit abschließt. Genauso verkehrt ist die Sicht, eure Mitstudis seien eure KonkurrentInnen -- im Gegenteil, sie sind eure Verbündeten bei der Aneignung und Entwicklung von Wissen ebenso wie beim Widerstand gegen die Angriffe aus Wissenschaftsministerium und Rektorat. Ein guter Platz, um eine Zusammenarbeit mit ihnen zu organisieren ist (oder sollte sein) eure Fachschaft.

Und schließlich könnt ihr euch auf dem weiten Feld umschauen, welches die Uni (und dann auch die Gesellschaft darüber hinaus) zurzeit halt so ist. Ein paar Highlights der letzten Zeit:

Fluch der späten Geburt hin oder her: Kämpfen mussten, das dürfen wir mal paternalistisch einwerfen, auch die, die vor euch, liebe Erstis, auf den harten Klappsitzen der Hörsäle saßen -- Studiengebührenfreiheit, verfasste Studierendenschaften in anderen Ländern und erste Entwicklungen weg von der reinen Frontalvorlesung kamen auch in den 70er Jahren nicht von selbst. Also: Nur munter gestritten. Ob ihr nachher einen Arbeitsplatz bekommt oder nicht, hängt nicht so sehr daran. Ob ihr und Generationen nach euch tausende von Euro für jedes Semester werdet zahlen müssen und dafür dann nur Industriepropaganda vorgesetzt bekommt, schon.

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Erzeugt am 19.04.2006

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