Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 23/2003 vom 19. März 2003
Dazu Urteil vom 19. März 2003 - 2 BvL 9/98 u.a. -
Rückmeldegebühren in Baden-Württemberg verfassungswidrig
Die im Jahr 1997 an den Hochschulen Baden-Württembergs eingeführte
Rückmeldegebühr ist verfassungswidrig. Die Bemessung dieser Gebühr in
Höhe von 100 DM (= 51,13 €) überschreitet bei der gewählten
Ausgestaltung des gesetzlichen Gebührentatbestands die
Gesetzgebungskompetenz des Landes Baden-Württemberg. Dies entschied der
Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen konkreter
Normenkontrollverfahren und erklärte die Rechtsgrundlage im
baden-württembergischen Universitätsgesetz insoweit rückwirkend vom
Zeitpunkt des ersten In-Kraft-Tretens an für mit dem Grundgesetz
unvereinbar und nichtig.
Die ebenfalls 1997 in Baden-Württemberg eingeführte Gebühr für die
Immatrikulation in Höhe von DM 100 war nicht Gegenstand des
verfassungsgerichtlichen Verfarens; deren Rechtsgrundlage ist von der
Nichtigerklärung ausgenommen. Die Einnahmen aus Immatrikulations-,
Rückmelde- und Zulassungsgebühren betrugen im Haushaltsjahr 1997
insgesamt rund 39,2 Mio. DM, im Haushaltsjahr 1998 rund 27,9 Mio. DM.
Der Einzug der Rückmeldegebühr war in Baden-Württemberg seit 29. Juli
1998 ausgesetzt. Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die
Pressemitteilung Nr. 89/2002 vom 15. Oktober 2002 verwiesen.
In den Gründen der Entscheidung heißt es:
1. Das Land Baden-Württemberg hat dem Grunde nach die
Gesetzgebungskompetenz für die Erhebung einer Rückmeldegebühr der
vorliegend bestimmten Art. Sie ist eine nichtsteuerliche Abgabe, für
die sich die Gesetzgebungskompetenz aus den allgemeinen Regeln der Art.
70 ff. GG ergibt. Die Rückmeldegebühr ist dem Hochschulwesen und damit
der "Kulturhoheit" zuzuordnen, die grundsätzlich in die
Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt. Mit der Bemessung der
Rückmeldegebühr in Höhe von 100 DM überschreitet der Landesgesetzgeber
jedoch seine Gesetzgebungskompetenz. Die Höhe des Gebührensatzes
widerspricht den Anforderungen, die bei der Erhebung und Bemessung
aller nichtsteuerlichen Abgaben zu beachten sind. Sie ergeben sich aus
der Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen
Finanzverfassung.
Zu diesem Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung führt der Senat
näher aus:
Drei grundlegende Prinzipien der Finanzverfassung begrenzen die
Zulässigkeit der Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben: Nichtsteuerliche
Abgaben bedürfen einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. Sie müssen
sich ihrer Art nach von der Steuer, die voraussetzungslos auferlegt und
geschuldet wird, deutlich unterscheiden. Bei der Erhebung
nichtsteuerlicher Abgaben muss weiter der Belastungsgleichheit der
Abgabepflichtigen Rechnung getragen werden. Ferner ist der Grundsatz
der Vollständigkeit des Haushaltsplans zu beachten.
Die zentrale Zulässigkeitsanforderung an nichtsteuerliche Abgaben,
nämlich ihre besondere sachliche Rechtfertigung, wirkt in zweierlei
Richtung. Die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben ist nicht nur dem
Grunde nach, sondern auch der Höhe nach rechtfertigungsbedürftig. Die
Bemessung der Gebühr ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn ihre
Höhe durch zulässige Gebührenzwecke, die der Gesetzgeber bei der
tatbestandlichen Ausgestaltung erkennbar verfolgt, legitimiert ist.
Dabei kann es sich um die Zwecke der Kostendeckung, des
Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung sowie um soziale Zwecke
handeln.
Bei der Gebührenbemessung besitzt der Gesetzgeber einen Entscheidungs-
und Gestaltungsspielraum. Zu dessen Wahrung ist die gerichtliche
Kontrolldichte eingeschränkt. Eine Gebührenbemessung ist
verfassungsrechtlich jedoch dann nicht sachlich gerechtfertigt, wenn
sie in einem "groben Missverhältnis" zu den verfolgten legitimen
Gebührenzwecken steht. In erster Linie hat der Gesetzgeber zu
entscheiden, welche Gebührenmaßstäbe und Gebührensätze er für eine
individuell zurechenbare Leistung aufstellt und welche über die
Kostendeckung hinausreichenden Zwecke er mit einer Gebührenregelung
anstrebt. Die verfassungsrechtliche Kontrolle der gesetzgeberischen
Gebührenbemessung, die ihrerseits komplexe Kalkulationen, Bewertungen,
Einschätzungen und Prognosen voraussetzt, darf daher nicht überspannt
werden. Der Gesetzgeber darf in Massenverfahren wie regelmäßig bei der
Gebührenerhebung generalisierende, typisierende und pauschalierende
Regelungen treffen, die verlässlich und effizient vollzogen werden
können.
Nicht jeder der genannten vier Zwecke kann beliebig zur sachlichen
Rechtfertigung der konkreten Bemessung einer Gebühr herangezogen
werden. Nur dann, wenn legitime Gebührenzwecke nach der
tatbestandlichen Ausgestaltung der konkreten Gebührenregelung von einer
erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden, sind sie
auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die
Gebührenbemessung zu liefern. Dabei gilt der rechtsstaatliche Grundsatz
der Normenklarheit. Der Gebührenpflichtige muss erkennen können, für
welche öffentliche Leistung die Gebühr erhoben wird und welche Zwecke
der Gesetzgeber mit der Gebührenbemessung verfolgt. Zur Normenklarheit
gehört auch Normenwahrheit.
2. Diesen finanzverfassungsrechtlichen Anforderungen genügt die im
baden-württembergischen Universitätsgesetz geregelte Rückmeldegebühr
nicht.
Die Bemessung dieser Gebühr steht in einem groben Mißverhältnis zu dem
vom Gesetzgeber normierten Gebührenzweck der Kostendeckung. Auch die
Zwecke des Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung oder soziale
Zwecke können die Höhe des Gebührensatzes sachlich nicht rechtfertigen,
da der Gebührentatbestand nach Wortlaut, Systematik und
Entstehungsgeschichte eine gesetzgeberische Entscheidung insoweit nicht
hinreichend klar erkennbar macht. Wesentliche Teile der Gebühr werden
- funktional wie die Steuer - voraussetzungslos erhoben. Die für die
Unterscheidung von der Steuer unerlässliche Abhängigkeit der
Rückmeldegebühr von einer Gegenleistung geht infolge ihrer überhöhten
Bemessung verloren. Die Rückmeldegebühr tritt insoweit als Mittel der
staatlichen Einnahmenerzielung in Konkurrenz zur Steuer. Im Einzelnen
führt der Senat hierzu aus:
Der Landesgesetzgeber verfolgte erkennbar den legitimen Gebührenzweck,
Einnahmen zu erzielen, um die speziellen Kosten für die Bearbeitung
jeder Rückmeldung zu decken. Diese betragen bei den
Universitätsverwaltungen der Ausgangsverfahren durchschnittlich
8,33 DM. Damit kann der vom Gesetzgeber mit dem Gebührentatbestand
geregelte Zweck der Kostendeckung die Gebührenhöhe von 100 DM nur zu
einem geringen Teil sachlich rechtfertigen.
Die Rückmeldegebühr lässt sich auch nicht als eine allgemeine
Verwaltungsgebühr zur Deckung aller Verwaltungskosten der
Universitätsverwaltung sowie sonstiger Einrichtungen der Universität
für studentenbezogene Leistungen rechtfertigen. Dagegen spricht bereits
der Wortlaut der Regelung, wonach die Gebühr "für die Bearbeitung jeder
Rückmeldung", nicht aber "bei" jeder Rückmeldung zu entrichten ist.
Hätte der Gesetzgeber Kostendeckungszwecke verfolgen wollen, die über
die speziellen Kosten für die Bearbeitung der Rückmeldung hinausgehen,
hätte er dies nach dem Grundsatz der Normenklarheit im
Gebührentatbestand mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck bringen
müssen. Weder eine systematische Auslegung noch die Gesetzesmaterialien
ergeben Anhaltspunkte dafür, dass mit der Gebührenregelung über die
Kosten der Bearbeitung der Rückmeldung hinausgehende Kosten für
Verwaltungsleistungen der Universitätsverwaltung und ihre Einrichtungen
gedeckt werden sollten.
Die Höhe der Rückmeldegebühr lässt sich auch nicht mit einem Ausgleich
von Vorteilen rechtfertigen, die infolge der Bearbeitung der
Rückmeldung mit der Aufrechterhaltung der Rechtsstellung "als
Studierender" verbunden sind und die sich durch die
mitgliedschaftlichen Rechte zum Besuch von Lehrveranstaltungen und zur
Nutzung der Universitätseinrichtungen zum Zwecke des Studiums ergeben.
Wortlaut, Entstehungsgeschichte und systematische Auslegung der
Rückmeldegebührenregelung sprechen gegen die Auslegung im Sinne einer
"versteckten Studiengebühr".
Soweit die Abschöpfung von "monetären Vergünstigungen" auf Grund von
Leistungen anderer öffentlicher Träger oder privater Dritter im
Gesetzgebungsverfahren eine Rolle gespielt haben sollte, sind darauf
ausgerichtete Zwecke jedenfalls nicht Gesetz geworden.
Zwecke der Verhaltenslenkung oder die Verfolgung sozialer Zwecke
scheiden bei der Rückmeldegebühr zur sachlichen Rechtfertigung aus.
Urteil vom 19. März 2003 - 2 BvL 9/98 u.a. -
Karlsruhe, den 19. März 2003
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