Dies hier ist ein Dokument, das nicht vom UNiMUT geschrieben wurde. Der UNiMUT findet das, was hier steht, bestimmt entweder bescheuert oder total gut.

Gehört zu "Kein Ruck diesmal" -- Red.

Berlin 
Mi 10.01.2001
  Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Abschlusskongress des Forum Bildung
 
 
  Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

I.

Bildung ist wichtig. Bildung ist ein Thema, das zu lange vernachlässigt worden ist. Die Veröffentlichung der PISA-Studie hat auch all jene aufgeweckt, die das immer noch nicht begriffen hatten. Bildung muss angesichts der erkennbaren großen Herausforderungen wieder auf die Tagesordnung, und zwar ganz oben und nicht nur auf die Tagesordnung derer, die reden und schreiben, sondern auch derer, die entscheiden und handeln. Damit meine ich nicht nur die professionellen Bildungspolitiker. Bildung ist so wichtig, dass sie alle politisch Verantwortlichen angeht.

Die Bildungsdiskussion der sechziger und siebziger Jahre ist vielerorts früh in einer Organisationsdebatte festgefahren. Viele der Beteiligten haben zu lange aneinander vorbei geredet, mehr übereinander als miteinander. Jetzt brauchen wir einen neuen Anlauf. Dafür ist es höchste Zeit.

Das Forum Bildung hat das nicht erst nach der Veröffentlichung der PISA-Studie begriffen.

Ich hatte in den vergangenen beiden Jahren immer wieder Gelegenheit, mich mit der Arbeit des Forums zu beschäftigen. Ich bin beeindruckt von der Fülle der behandelten Themen und auch von der Qualität  einzelner Beiträge. Trotzdem habe ich mich immer wieder auch gefragt: Was kann wohl das einigende Band sein für die vielen Einsichten, Anregungen und Empfehlungen?

Das Ziel scheint mir das gleiche zu sein wie in den sechziger Jahren: Bessere Teilhabe aller an Bildung.

Viele halten das für einen alten Hut oder für eine verstaubte Botschaft, die nicht mehr in unsere heutige Situation passt. Das stimmt nicht. Das ist ein Vorurteil und ein Fehlurteil.

Heute geht es natürlich nicht mehr darum, die Grundlagen eines modernen Bildungswesens zu legen. Das war die Leistung der sechziger und siebziger Jahre. Darauf können und darauf müssen wir aufbauen. Wir sollten über der PISA-Studie auch nicht vergessen, dass die OECD uns kürzlich alles in allem einen hervorragenden Ausbildungsstand der Bevölkerung bescheinigt hat.

Heute stehen wir aber vor der Aufgabe, eine neue Bildungsreform zu beginnen: Qualitativ und quantitativ. Die Teilhabe an Bildungschancen ist geringer und begrenzter als nötig.

Wir brauchen zum Beispiel in den kommenden Jahren mehr Hochschulabsolventen. Das sagt uns der jüngste Bericht der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung zur "Zukunft von Bildung und Arbeit". Das zeigen uns auch die Anstrengungen anderer Staaten.

Es geht aber um mehr als nur darum, mehr vom Gleichen zu bekommen. Es geht vor allem um qualitativ verbesserte Teilhabe, um eine Teilhabe, die die Veränderungen unserer Gesellschaft seit den sechziger und siebziger Jahren berücksichtigt.
  • Was heißt Bildungsteilhabe in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr selbstverständlich ist, dass die Familie der ruhende Pol ist?

  • Was heißt Bildungsteilhabe in einer Gesellschaft, in der Frauen ihre Gleichberechtigung in der Arbeitswelt nicht nur selbstverständlich einfordern, sondern in wachsendem Maße auch wahrnehmen?

  • Was heißt Bildungsteilhabe in einem Land, das seit langem zu einem Einwanderungsland geworden ist, das diese Tatsache aber eher widerwillig als aktiv gestaltend zur Kenntnis nimmt?

  • Was heißt Bildungsteilhabe in einer Gesellschaft, die sich individualisiert und pluralisiert hat, in der der Konsens über verbindende und verbindliche Werte nicht mehr selbstverständlich ist, in der dieser Konsens vielmehr immer wieder diskutiert und ausgehandelt werden muss?

  • Was heißt Bildungsteilhabe in einer Gesellschaft, in der für viele Menschen die Erwerbsarbeit "elastischer, poröser und fluider" geworden ist, wie Jürgen Kocka das kürzlich genannt hat?

  • Was heißt schließlich Bildungsteilhabe in einer Gesellschaft, die älter wird und die bisher weder die Chancen noch die Belastungen ausreichend sieht und entsprechend handelt, die in dieser Entwicklung liegen?


Auf all diese Fragen gibt das Forum Bildung nach meinem Eindruck wichtige Antworten. Jetzt muss die konkrete Arbeit beginnen. Geredet und geschrieben ist genug. Nun gilt es, die Kenntnisse in praktische Politik umzusetzen. Eine der Voraussetzungen dafür ist gewiss, dass Transparenz und Zusammenarbeit in der Bildungspolitik selbstverständlich werden.

Wie wenige andere Felder der Politik ist die Bildungspolitik eines, auf dem Erfolge stark davon abhängen, dass alle Beteiligten tatsächlich zusammenwirken. Das setzt voraus, dass wir ein klares Bild von den tatsächlichen Verhältnissen gewinnen. Das ist bis heute schwierig. Ich halte es nicht für gut, wenn wir ein Bild von der Lage in Deutschland immer nur auf dem Umweg über die OECD gewinnen. Darum begrüße ich sehr die Empfehlung des Forums Bildung, eine nationale Bildungsberichterstattung einzurichten.

Dafür müssen Bund und Länder eine Lösung finden.Die Bildungsberichterstattung ist ja kein Selbstzweck. Sie ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die Länder und der Bund, dass wir alle richtige bildungspolitische Entscheidungen treffen können.

Das Forum Bildung hat zwölf übergreifende Empfehlungen formuliert und die fünf ersten besonders hervorgehoben. Dazu möchte ich einige Bemerkungen machen.

II.

Wir geben zu wenig Geld für unsere Grundschulen aus. An den deutschen Grundschulen kommen deutlich mehr Schüler auf eine Lehrkraft als in anderen OECD-Ländern. Andere Staaten wenden sechzig bis neunzig Prozent mehr Geld für jedes Kind an Grundschulen auf als wir in Deutschland.

Das ist nicht nur ein Grund zur Beunruhigung, das ist ein massives Problem. Es weist auf eine Tendenz in unserem Bildungswesen hin, die nicht neu ist. Sie ist nach meinem Eindruck auch eine der entscheidenden Ursachen für die gravierenden Defizite bei der Kompetenz älterer Schüler, die die PISA-Studie zutage gefördert hat.

So wichtig die letzten Jahre in den weiterführenden Schulen, so unverzichtbar Lehre und Forschung an unseren Hochschulen: Beim Bau eines Hauses beginnt man aus gutem Grund mit dem Fundament und nicht mit dem Dach.

Es ist ja kein Zufall, dass jeder dritte ausländische Postdoc und jeder fünfte ausländische Professor in den Naturwissenschaften in den USA aus Deutschland kommt. Dummheit und Unkenntnis waren sicher nicht die Einstellungsvoraussetzungen.

Erfolge an der Spitze dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir die Elementar- und Grundschulbildung offenbar seit Jahrzehnten vernachlässigen.

Das fängt im Kindergarten und in den Kindertagesstätten an. In Deutschland kommen im Elementarbereich auf jede Lehrkraft  rund vierundzwanzig Kinder; nur in Korea und Mexiko sind es noch mehr.

Das muss sich dringend ändern. Je kleiner die Kinder, desto größer die Klasse: Diese Faustregel ist falsch und schädlich und darf nicht länger gelten.

Kinder, die in einen Kindergarten, in eine Kindertagesstätte oder in die Grundschule kommen, sind neugierig und wollen etwas lernen. Sie können es noch besonders gut. Ich wünschte mir, dass alle politisch Verantwortlichen sich von der Neugier und von der Lernfreude der Kinder anstecken ließen.

Wir sollten uns freilich davor hüten, jetzt mit Hinweis auf die drohenden Gefahren für den "Standort Deutschland" den Kindergarten und die Grundschule zur Berufsschule oder zum Gymnasium für Kleinkinder umzukrempeln.

Gewiss, es geht auch darum, die Neugier von Kindern für naturwissenschaftliche und technische Fragen zu fördern und zu nutzen, aber die Betonung muss doch eher auf "fördern" liegen als auf "nutzen".

Bildung ist immer langfristig angelegt. Sie braucht Zeit. Man muss sich diese Zeit auch nehmen und geben. Für Bildung am Beginn des Lebens gilt das ganz besonders.

Hier geht es um die Vermittlung der Grundfertigkeiten, um Lesen, Schreiben, Rechnen, um all das, was man braucht, damit man die späteren Bildungsangebote optimal nutzen kann. Vor allem geht es aber darum, die Lust am Lernen zu fördern.

All das hat sehr viel mit Teilhabe zu tun: Die Kindergärten, die Kindertagesstätten und die Grundschulen sind ja nicht nur die Tore zum Bildungswesen, sie sind auch die Tore zu unserer Gesellschaft, zu Selbstentfaltung und Gemeinschaftsfähigkeit, zu beruflichem Erfolg und staatsbürgerlicher Verantwortung.

Wer dort nicht teilhaben kann, weil die Bedingungen unzulänglich sind, der wird auch auf den späteren Stufen unseres Bildungswesens nicht mithalten können. Der hat es dann auch schwer in einer Gesellschaft, die Menschen ohne Wissen und Bildung zunehmend an den Rand drängt.

Das gilt für die deutschen Kinder und noch mehr für die Kinder aus Familien, die neu nach Deutschland gekommen sind.

Alle haben mittlerweile erkannt, dass wir gesteuerte Zuwanderung brauchen. Alle haben auch erkannt, dass Zuwanderung ohne Integration nicht gelingen kann. Der Schlüssel zur Integration ist die deutsche Sprache. Wo kann die am besten gelernt werden, wenn nicht im Kindergarten und in der Grundschule? Gewiss kommt es zuerst auf die Familien an, aber viele Familien sind eben überfordert. Das lässt sicht nicht über Nacht ändern.

In Städten wie Frankfurt oder Berlin hat schon heute fast jedes zweite Vorschulkind Eltern, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass wir es in den kommenden Jahren mit noch größeren Integrationsproblemen zu tun bekommen, wenn wir die Kindergärten und die Grundschulen nicht so umgestalten und ausstatten, dass sie ihren Beitrag zu einer gelungenen Integration leisten können.

Ich weiß, dass das alles Geld kostet und dass davon zu wenig in den öffentlichen Kassen ist. Es war ja schon schwer genug, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchzusetzen. Noch schwerer wird es werden und noch länger wird es dauern, den Vorschlag des Forums Bildung in die Tat umzusetzen, dass Kindertageseinrichtungen für die Eltern kostenlos sein sollen.

Wir müssen uns aber fragen, ob wir wirklich so weitermachen wollen wie bisher, mit einem schwachen und brüchigen Fundament unseres Bildungswesens, auf das dann große Häuser gebaut werden sollen. Ich meine, wir sollten das Fundament verstärken, sonst werden aus den großen und starken Häusern bald Bildungsruinen.

III.

In Deutschland wurden erst im Jahre 1900 Frauen zur Immatrikulation an Universitäten zugelassen, "versuchsweise". In den USA war das schon 1845 möglich.

Auch hier war Deutschland also lange Zeit eine "verspätete Nation".

In den hundert Jahren seither ist viel geschehen. Die Bildungspolitik der sechziger Jahre hat daran entscheidenden Anteil. Dass heute so viele Mädchen und Frauen weiterführende Schulen besuchen, dass ihr Anteil an den Studierenden mittlerweile über vierzig Prozent liegt und dass sie auch im Erwerbsleben eine immer wichtigere Rolle spielen - all das sind Ergebnisse der Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre.

Aber das ist nicht das ganze Bild.

In Kindergärten und in Kindertagesstätten sind fast hundert Prozent der Beschäftigten Frauen. In den Grundschulen unterrichten über achtzig Prozent Frauen, in der Sekundarstufe II sind es neununddreißig Prozent. An den Universitäten lehren sechsundzwanzig Prozent. Sieht man sich nur die C-4-Professuren an, dann sind es nur etwas mehr als sechs Prozent.

Die Arbeitswelt außerhalb des Bildungssystems ist ein Spiegelbild dieser Situation: Formal gibt es viele Chancen zur Teilhabe für Frauen, die sie auch erfolgreich nutzen, aber je weiter sie in der Einkommenshierarchie nach oben kommen - und "oben" fängt da oft schon ziemlich weit unten an - umso männlicher wird es.

Das hat viele Gründe. Einer dieser Gründe ist aber sicher, dass wir nach wie vor eine Schulpolitik betreiben, die unserem Ziel nicht ausreichend Rechnung trägt, Familie und Beruf besser als heute miteinander in Einklang zu bringen.

Andere Staaten haben die Zeichen der Zeit längst erkannt und die Ganztagsschule zur Regelschule gemacht. Wir gehen diesen Weg nur zögerlich.

Ich weiß, dass nun bei Manchem Ängste wach werden, Ängste vor der Verstaatlichung der Kindererziehung und vor der Auflösung der Familie.

Manche dieser Ängste kann ich durchaus verstehen und ich nehme sie ernst. Niemand kann und soll den Eltern die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder abnehmen.

In einer Gesellschaft, in der immer mehr Frauen erwerbstätig sind, brauchen die Eltern aber mehr Unterstützung.

Wie schwer sich Kindererziehung und Beruf miteinander vereinbaren lassen, das wissen vor allem die Alleinerziehenden, von denen die meisten ja Frauen sind. Probleme haben aber auch Familien, in denen beide Partner berufstätig sind.

Ich plädiere auch hier für weniger Ideologie und weniger falsche Idylle und für mehr praktischen Realismus.

Kinder zu haben, sie gut zu erziehen, ihnen die Bildungschancen zu geben, auf die sie Anspruch haben und all das in einer Gesellschaft, die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen am Berufsleben will und braucht - das ist ein ziemlich anspruchsvolles Programm. Das ist nur zu schaffen, wenn wir in der Schulpolitik nicht länger so tun, als sei die Zahl der berufstätigen Frauen eine exotische Minderheit. Wir brauchen erheblich mehr Ganztagsschulen.

Das ist gut für die Eltern, aber das ist auch und vor allem gut für die Kinder, denn auch deren Chancen zur Teilhabe an den Bildungsangeboten steigen.

Natürlich beklage ich, wenn Kinder vom Elternhaus mit ihren Ansprüchen auf intellektuelle und persönliche Förderung allein gelassen werden. Aber mangelnde Förderung hat ihre Ursache längst nicht immer in der mangelnden Fähigkeit oder dem fehlenden Willen der Eltern. Unsere Gesellschaft hat sich geändert. Es hilft daher auch nicht, die gegenwärtige Schule dafür zu schelten, dass sie die Probleme einer Wirklichkeit nicht auffängt, auf die sie noch gar nicht eingestellt ist.

Darum brauchen wir mehr Ganztagsschulen in allen Schulformen.

Schule ist nicht der Lebensraum, weder für die Schüler noch für die Lehrer. Die Schule muss heute aber ein Lebensraum sein, ein Ort, wo der einzelne junge Mensch nicht nur erfährt, was man tut und was man wissen muss, sondern ein Ort, an dem er als Person wahrgenommen wird, als Individuum mit seinen Stärken und Schwächen. Die Schule muss ein Ort sein, der die Stärken jedes Einzelnen stärkt und seine Schwächen schwächt.

IV.

Ich stehe dem Begriff "Wissensgesellschaft" skeptisch gegenüber, weil er deutlich zu kurz greift.

Im Zentrum unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung steht nicht der homo oeconomicus, sondern der mündige, der zu eigenem Urteil fähige Bürger.

Dieser Bürger steht im Erwerbsleben, gewiss - aber das Erwerbsleben ist nur ein Teil des gesellschaftlichen Lebens, und wir sind schlecht beraten, wenn wir diesen Teil des gesellschaftlichen Lebens für das Ganze halten.

Das Berufsleben ist enorm wichtig, aber es ist nur ein Teil und wenn Erziehung und Bildung das übersehen, dann leisten sie einer Form des Analphabetismus Vorschub, die uns noch teuer zu stehen kommen kann.

Jede Gesellschaft braucht Gemeinschaft, damit das Zusammenleben auch da gelingt, wo rechtliche, wo formale Regeln nicht greifen. Das müssen die Menschen begreifen und gelernt haben.

Wir diskutieren seit einiger Zeit, mal intensiv, mal weniger intensiv über Werteerziehung; darüber, wie wichtig Werteorientierung und Urteilsfähigkeit sind.

Das ist kein Signal zum Aufbruch zurück in eine formierte Gesellschaft.

Das wäre ein Irrweg. In einer Gesellschaft, die sich international öffnet, in der nicht nur wenige, sondern viele Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen, in einer Wirtschaft, die individuelle Kreativität und Flexibilität fordert, gibt es nicht mehr den stummen Zwang der Verhältnisse, nicht länger einen einheitlichen Moral- und Wertekanon.

Das Zusammenleben in unserer Gesellschaft kann aber nur gelingen, wenn die Bürger ihre eigenen Urteile fällen können, wenn sie gelernt haben, ethische Abwägungen zu treffen und wenn sie sich darauf verlassen können, dass Grundwerte nicht in Zweifel gezogen werden.

Das kann man in unserer Gesellschaft vielerorts lernen: In der Familie, im Verein, in Parteien und Gewerkschaften, in Bürgerinitiativen, im Betrieb.

Vor allem kann und sollte man es aber in den Bildungsstätten lernen, in den Kindergärten und Grundschulen, in den weiterführenden Schulen und - auch da - in den Hochschulen.

Hartmut von Hentig hat in einem schönen Essay mit dem Titel "Bildung" die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen, als einen wichtigen Maßstab für Bildung bezeichnet.

Ich weiß, dass der eine oder andere Bannerträger der Wissensgesellschaft gequält aufschreit, wenn er so etwas hört. Das sei zu allgemein, zu vage, zu wenig konkret.

Ich beharre darauf: Wir brauchen nicht nur Fakten, nicht nur quantifizierbares Wissen, wir brauchen in unseren Bildungsstätten auch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen und Maßstäben.

Dass diese Maßstäbe allgemein sind, ist kein Fehler, sondern eine Tugend. Nur so können wir Kinder und Jugendliche bei den Fragen und Antworten abholen, die sie selber stellen und geben.

Auch die Stätten der Bildung sind Orte, an denen man Werte erfahren, an denen man sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Dieser  Verantwortung dürfen sie sich nicht unter Hinweis auf ihre gewiss wichtigen Aufgaben der Berufsvorbereitung entziehen. Sie müssen sie aktiv wahrnehmen. Da schließe ich die Hochschulen ein.

Auf diesem Feld geschieht schon viel. Wir sollten diesen Einfallsreichtum und dieses Engagement fördern und nicht unterdrücken mit dem Hinweis auf den Ernst des Lebens und die notwendige Vermittlung von beruflich verwertbarem Wissen. Auch das ist Teilhabe, die mehr ist als Teilhabe am Erwerbsleben: Teilhabe am Leben.

V.

Wir leben in einer Gesellschaft, die älter wird. Das 21. Jahrhundert ist ein "Jahrhundert des Alters", wie Paul Baltes das einmal genannt hat.

Die Forderung nach lebenslangem Lernen gehört darum seit vielen Jahren zu den Standardforderungen jedes Bildungspolitikers und immer stärker zu denen der Wirtschaftspolitiker.

Es geschieht aber nicht genug. Unsere Bildungsdiskussion und unsere Praxis ist nach wie vor auf die Erstausbildung fixiert. Dass viele Menschen eine zweite Bildungschance brauchen oder haben wollen, das hat noch immer nicht den Stellenwert, der in Zukunft nötig sein wird.

In Deutschland nehmen dreißig Prozent der 25- bis 64-Jährigen an Angeboten der beruflichen Fortbildung teil. Damit liegen wir im OECD-Durchschnitt. In Australien, in Dänemark, in Norwegen oder Großbritannien liegt dieser Wert deutlich höher. Dort beteiligen sich vierzig bis fünfzig Prozent.

Ich wünsche mir, dass sich bei uns in Deutschland etwas in diese Richtung ändert. Vor allem wünsche ich mir, dass das lebenslange Lernen nicht nur für die gilt, die im Berufsleben stehen und die sowieso schon besser ausgebildet sind als andere.

Es ist nicht gut, wenn in Deutschland nur halb so viel Arbeitssuchende wie Beschäftigte an Veranstaltungen der Fort- und Weiterbildung teilnehmen.

In einer Zeit struktureller Arbeitslosigkeit ist gerade die Weiterqualifizierung der Arbeitssuchenden ein Schlüssel zu persönlichem und wirtschaftlichem Erfolg und auch ein wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Viel ist in den letzten Jahren vom Ende der Berufsgesellschaft oder von der schwindenden Bedeutung der Erwerbsarbeit geschrieben und geredet worden.

Manches davon ist gewiss richtig. Es bleibt aber wahr, dass die Erwerbsarbeit eine zentrale Voraussetzung sozialer Anerkennung war und ist. Für das Selbstwertgefühl der Menschen, für die Identität und für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist sie von allergrößter Bedeutung.

Eine Gesellschaft, die immer älter wird und in der das bezahlte Arbeitsangebot für Menschen ohne Ausbildung abnimmt, ist auf die Bereitschaft aller zu lebenslangem Lernen angewiesen. Das geht nicht nur die an, die schon im Beruf oder noch im Beruf stehen, sondern gerade jene, die keinen Arbeitsplatz haben.

Weiterbildung bedeutet doch nicht nur, dass der festangestellte Diplom-Chemiker bei einem großen Chemiekonzern neue technologische Verfahren lernt, Weiterbildung bedeutet auch, dass der junge Mann, dessen Eltern aus der Türkei stammen und der den Hauptschulabschluss nicht geschafft hat und ohne Arbeit ist, den Abschluss nachholen und eine Lehre als Maurer oder Verkäufer machen kann.

Da wird sich viel ändern müssen, nicht nur in unserem Bildungswesen. Auch die Regelungen auf dem Arbeitsmarkt und in unseren Sozialsystemen werden wir daraufhin überprüfen müssen, ob sie Weiterbildung erschweren oder Weiterbildung erleichtern.

All das wird nicht leicht sein und es wird vermutlich auch Geld kosten, aber es geht beileibe nicht nur um Geld.

Es geht auch um Initiative und um Haltungen.

Wir werden zum Beispiel wieder lernen müssen, dass Älterwerden und Alter nicht mit wachsender Unfähigkeit gleichzusetzen sind.

Es ist gut und richtig, die Zeit der Jugend zu nutzen. Junge Menschen sollten früher Verantwortung übernehmen können.

Darum sollten die Zeiten der Bildung und Ausbildung nicht länger als nötig sein. So lange müssen sie aber sein.

Michel de Montaigne, der große Denker, hat einmal zu Recht gesagt: "Ich habe Menschen genug gesehen, denen das Gehirn noch vor dem Magen und den Beinen schwach wurde; und gerade, weil der, den dieses Gebrechen befällt, es kaum verspürt und es sich nur dunkel zu erkennen gibt, ist es umso gefährlicher."



Das stimmt, aber viele in unserer Gesellschaft scheinen das vergessen zu haben. Jugend gilt per se als Ausweis von Leistungsfähigkeit. Erfahrung, die ja nur mit dem Alter kommen kann, gilt als Ressource, die man vernachlässigen kann.



Da werden wir umlernen müssen.



Weiterbildung ist nicht bloß die Ertüchtigung derer, die sonst nicht mehr mitkommen. Weiterbildung schafft auch die Möglichkeit, von der Erfahrung der Älteren zu profitieren. Wer auf der Höhe der Zeit sein will, der muss sich diesen Schatz erhalten und er muss lernen, damit umzugehen.

VI.

Schließlich ein Punkt, der mir besonders wichtig ist: Bildung ist immer zuerst etwas, das zwischen Menschen stattfindet. Bildung ist Gespräch, fragen können und zuhören können, oder - wenn man den akademisch klingenden Ausdruck vorzieht: Kommunikation.

Ich habe mich daher besonders darüber gefreut, dass auch nach Aussage des Forums Bildung die Lehrenden der Schlüssel für jede Bildungsreform sind.

Das stimmt, und das kann nicht oft genug gesagt werden.

Die Kultusministerkonferenz und auch der Wissenschaftsrat haben sich jüngst zur Frage der Lehrerbildung geäußert. In den Ländern ist manches in Bewegung. Dass die Qualität der Lehre an unseren Hochschulen heute größere Aufmerksamkeit findet als früher, ist erfreulich.

Unsere Bildungsstätten sind so gut wie die, die dort lehren und forschen.

Die Lehrer brauchen viel, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Vor allem brauchen sie unsere Unterstützung.

Die Schule und auch die Hochschule machen nicht immer Freude. Aus solchen Erfahrungen sprießt bei manchen das Ressentiment.

Das kann man ja verstehen, im Einzelfall.

Wenn das Ressentiment aber die öffentliche Debatte beherrscht, dann ist etwas faul und dann wird auch das Reden von der wachsenden Bedeutung der Bildung für unser aller Zukunft zur bloßen Phrase.

Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass das nicht so wird.

VII.

Gibt es eine Formel, die all das zusammenfasst, was jetzt in der Bildung getan werden muss?

Es geht um Teilhabe, um qualitativ verbesserte Teilhabe an Bildung in einer Gesellschaft, die sich gewandelt hat und immer weiter verändert. Das wollte ich deutlich machen.

Ich kenne keine Formel, die alles, was praktisch notwendig ist, schlagwortartig zusammenfasst. Ich warne auch davor, nun in hektische Betriebsamkeit zu verfallen und plakative Scheindebatten über diesen oder jenen einzelnen Gesichtspunkt zu führen, dessen Veränderung angeblich alles besser macht.

Die Zusammenarbeit all derer, die im Bildungsgeschehen zusammenwirken müssen, ist möglich. Man muss sie wollen.

Das scheint mir fast die wichtigste Botschaft des Forums Bildung zu sein.

Wir müssen ideologische Fixierungen der Vergangenheit überwinden. Das gilt für alle bildungspolitischen Denkschulen. Wir müssen genau hinschauen, wo die Probleme liegen und dann konkrete Antworten auf konkrete Fragen suchen.

Das Forum Bildung hat in den letzten beiden Jahren bewiesen, dass das gelingen kann. Dafür möchte ich Ihnen allen danken.

Nun ist die praktische Politik an der Reihe. Der Schwung ist da. Jetzt muss  aus dem Schwung wirkliche Veränderung und neues Gestalten entstehen.

 

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