"Negativität", "Trauer", "Erinnerungslosigkeit": wer schon immer glaubte, Philosophie sei etwas für weltabgewandte Depressive, fühlte sich durch die Plakatserie Ende Mai bestätigt. Eine Vortragsreihe mit Karl-Heinz Bohrer wurde da angekündigt.
Bohrer ist der diesjährige Inhaber der Gadamer-Professur, und Gadamer, dass ist der alte Mann, dessen Geburtstag jedes Jahr in ganz Heidelberg gefeiert wird, denn der ist bereits dreistellig. Gadamer ist gewissermaßen ein "One Hit Wonder" der Philosophie: 1960 schrieb er ein vielbeachtetes Buch und zehrt seitdem von diesem Erfolg. Heute gibt Gadamer Interviews in der vom Verfassungsschutz beobachteten Zeitung "Junge Freiheit", bezeichnet dort den Islam als die größte Gefahr für den Weltfrieden und tritt "sehr für den Schutz der Mütter" ein, weil "wir", also die Männer, "in den Frauen eine Begabungsquelle haben". Das ist ein Mann, den man ehren muss, fand die Deutsche Bank und stellte Geld für die sogenannte Gadamer-Professur zur Verfügung. Und die bekam jetzt Herr Bohrer.
Bohrers wichtigste These: Die deutsche Geschichte vor 1933 wird in Deutschland entweder ignoriert oder nur als Vorgeschichte für den Nationalsozialismus betrachtet. Deshalb müssen sich die Deutschen ihre gemeinsame Identität aus der ewigen Zerknirschung über den Holocaust holen, was natürlich nicht gut gehen kann.
Eine solche These kann selbstverständlich nur Bestand haben, solange es der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft schlecht geht, denn sonst böte die sich ja zur Identitätsstiftung an. Überhaupt scheint Bohrer übersehen zu haben, dass sich heutige Studierende ihre Identität nicht mehr dadurch besorgen, dass sie die "Geschichtslosigkeit" ihrer Eltern "entlarven". Bohrers Thesen sind für die Lebenswelt der über Fünfzigjährigen bestimmt, und zwar für die über fünfzigjährigen Männer, wie man durch einen Blick auf die zur Vortragsreihe veranstalteten Podiumsdiskussion leicht feststellen konnte.
Wem also das "Entlarven" der Linken nicht gefällt, der kann jetzt mit Bohrers These umgekehrt vorgehen und alle, die sich mit der Nazizeit beschäftigen, als arme Identitätssucher entlarven. Als hätte der vemeintliche Übereifer unserer Elterngeneration dazu geführt, das das Thema jetzt ignoriert werden muss, bis die anderen Themen "ausgeglichen" haben.
Betrachten wir trotz Bohrers Verbot die Geschichte der Philosophie zwischen 1933 und 45: Gadamer zum Beispiel machte während dieser Zeit Karriere, indem die Professorenstelle eines entlassenen jüdischen Kollegen übernahm. Dagegen gehörten die Philosophen des sogenannten "Wiener Kreises" zu denen, die vertrieben wurden und so Platz für angepasste nichtjüdische Wissenschaftler machten. Im Wiener Kreis hatte man sich mit den Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft beschäftigt, die "Wissenschaftstheorie" wurde erfunden. Diese wissenschaftlich orientierte Philosophie galt als "verjudet", und es dauerte nach dem Krieg etliche Jahre, bis die Theorien des Wiener Kreises den Weg zurück nach Deutschland und Österreich fanden.
Nun sind sie ja wieder da, die Theorien, und am Heidelberger Lehrstuhl für Philosophie der Wissenschaften könnte man sich damit beschäftigen. Könnte man, wenn die Wiederbesetzung des Lehrstuhls nicht verzögert und verhindert worden wäre, wo es nur ging -- im Philosophischen Seminar regierte ein Gadamer-Schüler. Inzwischen musste die nach wie vor unbesetzte Professur wegen Geldmangels der Fakultät sogar halbiert werden.
Nun gibt es seit fünf Jahren keine Wissenschaftsphilosophie mehr in Heidelberg, und es wird wohl noch einige Zeit so bleiben. Was es dafür gibt, sind reichlich Gadamer-Ehrungen und eine Gadamer-Professur. Und als sei diese Unsensibilität nicht schon schlimm genug, wurde mit dem Geld, das der Name Gadamers einbringt, nun auch noch Karl-Heinz Bohrer eingeladen. Bohrer, der uns mahnt, uns lieber an Friedrich II zu erinnern als an den Nationalsozialismus - der Trend geht eben zum Langzeitgedächtnis.
Karl-Heinz Bohrer ist kein Nazi, und Wissenschaftsphilosophie ist keine verfolgte Disziplin. Aber mit der Vortragreihe mit den depressiven Titeln hat das Direktorium des Philosphische Seminars klargemacht, was es für wichtig hält: Alte Männer und die Geschichte, und zwar die von vor 1933. Die Diskussionen um Stammzellenforschung und Verantwortung der Wissenschaft, die Interpretation von moderner Physik und Mathematik -- all das läuft in Heidelberg ohne Beteiligung der Philosophie ab. Statt geschichtskundiger Teilnahme an der Gegenwart: Erinnerungslosigkeit, Trauer und Negativität.
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