Heute vor 150 Jahren veröffentlichten Karl Marx und Friedrich Engels ihr Kommunistisches Manifest. Auch nach dem allseits verkündeten "Ende des Sozialismus" ist dies selbst für die breite Öffentlichkeit noch ein durchaus erwähnenswertes Ereignis -- die Bedeutung des Kommunistischen Manifests mag mensch schon aus dem Umstand ablesen, dass es zu den ersten ursprünglich deutschsprachigen Texten gehörte, die das Project Gutenberg in seine Archive aufnahm (z.B. vom UK-Mirror).
Unser Heidelberger Theologie-Dozent Klaus Berger etwa, auch von studentischer Seite geschätzt als Autor der alljährlichen Nikolausvorlesungen, kritisiert zum Jubiläum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (kein Link, da deren Webangebot ziemlich langweilig ist...) einen Artikel des US-Philosophen Richard Rorty, der ebenfalls in der FAZ erschienen ist. Rorty hatte, da mensch offenbar jenseits des Atlantiks schon wieder etwas entspannter mit Marx umgehen kann, "der Jugend" Bibel wie Manifest zur Lektüre empfohlen, was weder Berger noch FAZ so nicht stehen lassen konnten. Bergers Fazit:
Marx und Engels haben christliche Theologie studiert. Es ist daher recht gut erkennbar, woher sie ihre Ideale der Brüderlichkeit nehmen. Sie möchten sie ohne Gott verwirklichen. Die Geschichte ihrer Ideen, die sie freilich nicht im ganzen selbst zu verantworten haben, zeigt, was diese scheinbar nebensächliche Kleinigkeit bedeutet hat. Was sie entwickelt haben, war gnadenlos säkularisiertes Christentum. Wie bei allen Nachahmungen der Weltgeschichte werden die Fehler übernommen, aber die Tugenden übersehen. In diesem Sinne gilt: Christentum und Kommunismus sind nicht zwei gleichartige Sekten, sondern Original und schlechte Kopie.
Man kann das Gedankenexperiment machen, sich alles Christliche aus dem Bild unserer Städte, aus der Sozialversorgung und unserer ganzen Kultur wegzudenken. Nicht allzuviel bliebe übrig. Man kann versuchen, sich das Kommunistische Manifest aus der Geschichte unserer Welt wegzudenken. Das wäre wohl ein Albtraum weniger.
Nun muss der Redakteur sagen, dass die Welt ohne Inquisition, Hexenverfolgung, wild um sich schießende Evangelikale, senile Päpste und ähnliche Folgen gottesinspirierter Brüderlichkeit auch ein paar Alpträume loswäre -- aber darum geht es nicht.
Denn bei aller Häme, der sich das Papier nach 150 Jahren entgegensieht: Sein erster Satz ist zeitlos und zumindest strukturell immer wieder neu anzupassen. "Ein Gespenst geht um in Europa -- das Gespenst des Neoliberalismus", würde mensch heute schreiben. Manifeste jedoch, die das beschwören -- jüngst wieder das MAI, kommen selten an die Öffentlichkeit, reden überhaupt nicht von Brüderlichkeit, ob mit Gott oder ohne, und literarischen Wert haben sie schon gleich gar nicht.