Die Aula der PH war voller als voll -- Fensterbretter bogen sich unter der Last zu vieler künftiger LehrerInnen, die Feuerpolizei wäre ob der auf den Gängen sitzenden und in den Türen stehenden Menschenmassen zur Räumung geschritten. Und dabei ging es weder um Tipps zum ersten Staatsexamen noch um eine von Spiegel oder SWR organisierte Podiumsdiskussion zu Studiengebühren mit 5 namhaften Promis.
Nein, am vergangenen Dienstag ging es in der Aula der Alten PH um die PISA-Studie und ihre Auswirkungen auf die LehrerInnenausbildung. Auf dem Podium saßen neben der GEW-Bundesvorsitzenden Stange (die trotz eines gewissen Promistatus gewiss die Studimassen nicht erklären kann) nur dem Publikum mehrheitlich bereits bekannte Profs der PH. Schlimmer noch, statt telegener Hahnenkämpfe musste das Auditorium zunächst vier Vorträge über Aufbau, Zweck und (mittlerweile ja wohlbekannte) Ergebnisse durchstehen. Die Vorträge (drei auf der Basis von Powerpoint, nur der Mathematiker Selter bleib bei Folien) ließen schon ahnen, dass PädagogInnen am Werk waren, und so hielt das Publikum eisern durch -- trotz quälender Enge, trotz zunehmend schlechter Luft und trotz eines quengelnden Säuglings, wie bestellt, um PH-Klischees zu erfüllen.
Die anschließende Diskussion litt zumindest anfangs an Dissensmangel, als es sich fragte, was PISA wohl für die LehrerInnenausbildung allgemein und für die PH speziell bedeuten könne. Bemerkenswert aus Sicht eines von den gebetsmühlenartig wiederholten Forderungen nach Leistungs- und Elitenorientierung geplagten Uni-Angehörigen waren Forderungen nicht nur nach Rücksicht auf SchülerInnen in den unteren "Kompetenzstufen" der Studien, sondern sogar nach verstärkter Ausbildung der LehrerInnen hin zu Diagnosefähigkeit, d.h. dem Erkennen von "Leistungsproblemen". Diese wird an der PH derzeit praktisch nicht vermittelt (an der Uni, das nur nebenbei und im Hinblick auf GymnasiallehrerInnen auch zentral bemerkt, übrigens schon dreimal nicht). Podium und Publikum waren sich rasch darin einig, dass gerade diese Fähigkeit aber wichtig ist, um "schwächeren" SchülerInnen frühzeitig helfen zu können.
Keine Frage: Man war in einer anderen Welt, dies ist nicht die moderne, leistungsorientierte, wettbewerbsfähige, zukunftsfähige Universität, von der Wissenschaftsminister und Rektoren träumen. Niemand redete davon, dass Diagnose und Behebung von Lernschwierigkeiten den Wettbewerb im Schulzimmer behindern würde. Stattdessen wurde konstatiert, dass man derartige Kompetenzen nicht im Studium alleine lernen könne, sondern auch im Rahmen einer verbesserten lebenslangen Lehrerfortbildung verbessern muss.
Geradezu revolutionär war dann die vom Deutschprofessor Haueis vorgetragene Forderung, die Regelstudienzeit für Lehramtsstudiengänge, insbesondere für Sonderpädagogik, zu erhöhen -- es könne nicht angehen, dass das komplexeste Lehramt die kürzeste Regelstudienzeit habe. Ob die breite Zustimmung im Publikum dem Wissen entsprang, dass LehrerInnen im Bildungsmusterland Finnland 12 Semester studieren, kann die Redaktion nicht beurteilen.
Vorhersagbar waren die Einlassungen der GEW-Bundesvorsitzende Stange, nötig sei ein stärkeres Engagement in der Grundschule sowie ihr Plädoyer für die Gesamtschule. Solche Vorschläge, so musste sie einschränken, stießen in allen politischen Lagern auf Widerstände: Seit der Bundestag nach Berlin gezogen ist, gibt es auch in Berlin Gymnasien, die mit der 5.Klasse anfangen -- zuvor hatte Berlin Gymnasien erst ab der 7.Klasse... Etwas diffus war dabei von "der Gesellschaft" und "der Wirtschaft" die Rede, die ein Interesse hätten, wenige sehr Gute zu fördern und die breite Masse allein als Kostenfaktor zu veranschlagen. "Das System", so war man sich rasch einig, sei hier vor allem verantwortlich -- Blicke in eine lang vermisste Welt, in der alles besser wäre.
Größere Kontroversen auf dem Podium und auch im Publikum rief die Aussage der Psychologieprofessorin Roos hervor, die Seminare seien so voll, dass eine individuelle Betreuung der Studierenden unmöglich sei, Maßnahmen gegen die Überfüllung seien dringend geboten. Das mochte Norbert Giovannini, Lehrbeauftragter an PH und Uni und seit langem Lehrer in Mannheim, nicht so stehen lassen -- er rief die Lehrenden an der PH auf, doch ein wenig pädagogische Innovativität zu beweisen und andere Lehrformen zu wählen, denn auch zu seinen Zeiten seien Seminare voll gewesen, doch davon alleine würden die Lehrer noch nicht schlecht.
Nicht wirklich klar wurde, wieso sich gerade PISA zu einem Medienrenner ersten Ranges entwickelt hat, waren doch Studien mit vergleichbaren Ergebnissen bereits in den siebziger Jahren veröffentlicht worden, wenn auch vielleicht nicht mit Vergleichen zu Mexiko und Korea. Das Gefühl der meisten Anwesenden war, dass der Punkt der Erregung weniger die 20% SchülerInnen sind, die am Ende ihrer Schulzeit nicht in der Lage sind, sich einfache Sachverhalte aus Texten anzueignen, sondern vielmehr der Umstand, dass es anderswo besser aussieht, dass also eine mögliche künftige Studie, in der die Kenntnisse in der BRD so schlecht aussehen wie heute, die in Finnland aber noch schlechter, kaum für vergleichbare Hektik sorgen würden. Den umgekehrten Fall, dass sich nämlich die Ergebnisse in der BRD in der nächsten Zeit deutlich verbessern werden, hielten die DiskutantInnen für utopisch -- auch Verbesserungen im Prozentbereich, so nicht durch Studiendesign oder sachfremde Manipulation verursacht, würden Jahre, eher Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Nachdem die ersten gegangen oder erstickt waren und das Publikum wieder etwas Luft bekam, konnte es auch das Wort bekommen. Einige JunglehrerInnen berichteten, dass all das Fachwissen und auch viele erziehungswissenschaftliche Veranstaltungen ihnen nicht so viel brächten. Die Fachdidaktik, die leider aber viel zu kurz komme im Studium, sei, was ihnen in der Praxis am meisten geholfen habe. Ein Besucher verstieg sich sogar zur Forderung, ein MPI für Fachdidaktik solle eingerichtet werden.
Zur Frage, wohin so ein Institut forschen solle, wies der Mathematikdidaktiker Selter darauf hin, dass man sich in der Forschung viel stärker mit Fragen nach dem Kerncurriculum befassen sollte, also nach den "Essentials", die die Schule zwingend vermitteln muss. Dazu müssten Verfahren zur Leistungserfassung kommen, denn wenn nur 10% der schwächeren SchülerInnen von den LehrerInnen als solche erkannt werden werden -- dies legen die Begleituntersuchungen von PISA nahe --, liegt hier riesiges Aufgabenfeld.
Einig war man sich auch rasch, dass mehr Mathestunden das Problem nicht lösen, Ziel muss ein inhaltlicher Diskurs sein, also die Überlegung, was man macht und wie man es macht. Mehr von dem Unterricht, den wir bisher haben, löst kein Problem, selbst wenn die Kultusministerien und auch "die Gesellschaft" in ihrer Mehrheit das noch nicht wahrgenommen haben.
Aber vielleicht war das Ganze nur eine Phantasiereise unter dem Titel: "Aufgrund einer Studie, die ergibt, dass das deutsche Schulsystem Mängel aufweist, können Sie über Verbesserungen nachdenken..."
Dieser Artikel wurde zitiert am: 16.02.2002